Ohne Boden unter den Füßen
Auf den Rollstuhl angewiesen sein – das war eine meiner Ängste als Kind, die ich wohl mit vielen anderen teilte. Unvorstellbar, nicht mehr laufen zu können oder noch schlimmer. Rund 50.000 Menschen in Österreich meistern dieses Handicap Tag für Tag. In einem Selbstversuch will ich eine Vorstellung davon bekommen – mit dem Wissen: Nach zwei Stunden stehe ich auf und darf nach Hause gehen, mit zwei gesunden Beinen und heilen Nervenbahnen. Andere können das nicht.
Im Rahmen von Workshops bietet der Life Coach in Wien, Michael Sicher, der selbst seit dem Kleinkindalter im Rollstuhl sitzt, Personalverantwortlichen von Unternehmen und Journalisten die Möglichkeit, für kurze Zeit die Perspektive zu wechseln und einige Stunden im Rollstuhl zuzubringen. Mit dem Mentoring-Programm „CEOs on Wheels“ organisiert er zudem einen Austausch zwischen Führungskräften der Wirtschaft und Menschen im Rollstuhl, die berufstätig sein möchten und es oft schwer haben am Arbeitsmarkt.
Orientierung finden
Es ist ein Freitagnachmittag in Wien, eine geschäftige Zeit, in der alle hektisch ins Wochenende zu stürmen scheinen. Doch eines merke ich schnell: Für mich und die anderen beiden Teilnehmer entschleunigt sich der Alltag sofort. Plötzlich scheinen wir etwas die Orientierung verloren zu haben. Und wir drei brauchen Zeit, viel Zeit, um unsere Aufgaben, die wir von Michael Sicher bekommen haben, zu erledigen: ganz alltägliche Dinge wie öffentliche Verkehrsmittel benutzen und einkaufen.
Wir wechseln uns in den Rollen als Begleitpersonen und Rollstuhlfahrer ab. In den ersten Minuten ist es ungewohnt, dass sich jemand auf unterschiedlicher Höhe neben mir bewegt, ich stolpere anfangs etwas irritiert neben dem Rollstuhl her. Bernhard, der als Erster in den Rollstuhl wechselt, hat das Lenken relativ schnell heraus: rechts kurbeln bedeutet nach links lenken. Dennoch: Manche Ecken passiert er gefährlich nahe. Als wir ihn schließlich aus dem AKH schieben, wo unser Ausgangspunkt ist, fallen wir kaum auf. Dort ist Bernhard einer unter vielen. Es gibt genügend Platz, die Lifte sind geräumig, müssen darin doch auch rollende Betten Platz finden.
Beim U-Bahn-Lift drücke ich wie selbstverständlich auf den Knopf nach oben, Markus macht im nächsten Lift dasselbe. „Schon wieder werde ich bevormunde“, meint Bernhard, der im Rollstuhl sitzt. Wir unterhalten uns während der Ausfahrt, können uns aber nicht ganz darauf einigen, welche Konstellation kommunikativ ist. Es ist gewöhnungsbedürftig, mit jemandem über seinen Kopf gebeugt zu sprechen und ihm dabei nicht in die Augen zu schauen.
Rollenwechsel
Bei einer der nächsten Stationen steigen wir aus und wechseln die Rollen. Markus setzt sich in den Stuhl. Was denken sich wohl die Menschen, die uns beim Wechseln beobachten, fragen wir uns.
Beim Bäcker soll sich Markus etwas kaufen. Der Weg von der U-Bahn zum Bäcker ist barrierefrei, und mit helfenden Händen sind auch geschlossene Türen kein Problem. So ganz genau sieht er aber nicht, was die volle Vitrine alles zu bieten hat. Eine Frau vor ihm verstellt sowohl die Sicht als auch den Weg. Doch die Verkäuferin ist beherzt. Mit einer Zange hält sie kurzerhand zwei gefüllte Weckerln hoch. Ja, das Angebotene sieht gut aus. Schwieriger wird es beim Zahlen. Obwohl sich die Mitarbeiterin weit über die Vitrine beugt, muss sich Markus ziemlich nach oben strecken. Wohin mit dem Gekauften? Wenn man beide Hände zum Anschieben braucht und keine Tasche mithat, ist so ein Sackerl ziemlich lästig.
Überall im Weg
Zurück zur U-Bahn. Ich schiebe den Rollstuhl und erfahre, es ist gar nicht so einfach, das Ding gefahrlos nach hinten zu kippen und über den kleinen Spalt in den Waggon zu manövrieren. In der U6 gibt es zwar Einstiege, die für Rollstuhlfahrer gekennzeichnet sind, doch in der Eile sind wir froh, es überhaupt rechtzeitig in die U-Bahn zu schaffen. Zeit, die geeignete Tür zu finden, bleibt nicht.
Im Waggon merken wir, dass wir überall im Weg sind. Umparken ist schwierig, wenn sich die U-Bahn bewegt. Wie vermutet machen wir es anderen Fahrgästen schwer, an uns vorbeizukommen, als die Bahn hält. Eine alte Frau, selbst ganz schlecht zu Fuß, lässt meinetwegen sogar ihren Stock fallen. „Das ist heute nicht mein Glückstag“, meint sie entschuldigend. In mir regt sich schlechtes Gewissen, weil ich es nicht geschafft habe, den Stuhl rechtzeitig zur Seite zu schieben, um ihr das Vorbeigehen zu erleichtern.
Um den Rollstuhl beim Aussteigen heil hinauszuschieben, muss ich ihn umdrehen. Dafür brauche ich viel Platz, den fordere ich mit einem halblauten „Achtung“ ein. Überraschend kooperativ verhalten sich die wartenden Fahrgäste, die einsteigen wollen. Geschafft, U-Bahn-Fahren und Einkaufen sind erledigt.
Andere Perspektive
Jetzt wechseln wir wieder die Rollen, ich bin dran. Die glänzenden Metallräder zum Kurbeln sind eiskalt, ich friere. Ungewöhnlich nah bin ich dem schmutzigen Boden. Seltsam ist es, zu den gehenden Menschen aufschauen zu müssen. Recht schnell lerne ich, gezielt nach Aufzügen im U-Bahn-Bereich Ausschau zu halten. Michael Sicher erzählt später, dass er eine Art Landkarte im Kopf hat. Er weiß, wo er in welcher Station aussteigen muss, um möglichst kurze Wege zu haben. Nur in der Linie U3 gibt es am Zugende Waggons mit Rampe. Das macht sein Leben leichter.
Meine Aufgabe ist es, ein Behinderten-WC zu finden. Tatsächlich, in der Station sind WCs, die mir noch nie zuvor aufgefallen sind. An einer Tür prangt ein Rollstuhlsymbol. Zielstrebig rolle ich Richtung Tür und drücke erwartungsvoll die Klinke nach unten. Die Tür ist verschlossen. Also klopfe ich am Fenster der Wiener Linien. Ich muss um den Schlüssel fragen. Der junge Mitarbeiter verschwindet und kommt wieder, um mir aufzusperren. Mich interessiert, ob die Tür immer versperrt ist, und ich frage nach. „Ich arbeite erst seit gestern hier, ich weiß nicht“, antwortet er entschuldigend. Drinnen ist es sauber und groß genug, um mit dem Rollstuhl zurechtzukommen. Das ist wohl der Vorteil von verschlossenen WCs. Trotzdem bin ich froh, dass ich es nicht benützen muss.
Blickkontakt
Ich kurble zurück ins AKH, mir wird warm. Selber fahren geht schnell in die Arme. Das letzte Stück lasse ich mich schieben und merke, dass ich so ein Stück Kontrolle aufgebe. Ich kann nicht bestimmen, wo genau ich fahre. Im voll besetzten Aufzug ernte ich einige verstohlene Blicke. Als ich hoch in die Runde blicke, schauen alle weg.
Eine leise Ahnung von der Fortbewegung im Rollstuhl habe ich bekommen. Es bräuchte aber viel mehr Zeit, um sich die Hürden eines solchen Alltags auch nur ansatzweise vorstellen zu können. Es ist nicht nur die eingeschränkte Mobilität und die Behinderung selbst, mit der Betroffene leben müssen. Viele von ihnen sind außerdem auf persönliche Assistenz angewiesen, weil ihre Bewegungsfähigkeit im Allgemeinen eingeschränkt ist. Manche Menschen kommen nicht selbst aus dem Bett, brauchen jemanden für intime Dinge wie Zähneputzen und WC-Besuche. Die fremde Hilfe eröffnet zwar die Möglichkeit selbstbestimmt zu leben, bedeutet zugleich aber auch den Verzicht auf Privatsphäre. Dass das nicht immer einfach ist, bestätigt auch Michael Sicher, der selbst einen persönlichen Assistenten braucht.
Es hat Überwindung gekostet, Zeit im Rollstuhl zu verbringen, und ich sehne mich nach dem Boden unter den Füßen, obwohl ich einiges bewältigt habe. Als ich zurück Richtung Seminarraum rolle, rollt mir Michael Sicher entgegen – er schmunzelt wissend. Wir begegnen uns auf Augenhöhe.
Marietta Türk